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© Finnland-Institut/Foto: Rebecca Suoranta

„Es gibt keine Muttersprache, sondern die Machtergreifung einer herrschenden Sprache“

Was ist charakteristisch für Literatur, die nicht von „Muttersprachlern“ geschrieben wurde? Der finnische Literaturwissenschaftler Robert Seitovirta untersucht dies am Beispiel der deutschsprachigen Autorinnen Marica Bodrožić und Yoko Tawada.

„Es gibt keine Muttersprache, sondern die Machtergreifung einer herrschenden Sprache“ heißt es in einem Werk der französischen Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari. Obwohl diese Feststellung übertrieben klingt, steckt ein nachvollziehbarer Gedanke darin: Das Aufrechterhalten einer einsprachigen, also monoglossischen Sprachidentität von Nationalstaaten scheint in Anbetracht der Sprachenvielfalt Europas teilweise etwas veraltet. Laut der Studie Valuing All Languages in Europe von 2007 liegt die Anzahl der unterschiedlichen gesprochenen Sprachen in Europa bei über 400. Am meisten wird in Europa Englisch gesprochen, aber als Muttersprache immer noch am häufigsten Deutsch.

Für die Schriftstellerinnen Marica Bodrožić und Yoko Tawada ist Deutsch eine Fremdsprache gewesen, aber ihre Werke als „Migrationsliteratur“ zu bezeichnen, wäre nicht gerechtfertigt. In ihren Büchern beschäftigen Sie sich intensiv mit Themen der Migration, Sprachenvielfalt, Fremdheit und Mobilität. Eine „eigene“ Sprache zu haben, setzt nicht immer einen nationalistischen Ansatz voraus, sondern kann auch zur Reflexion der Vielfältigkeit sprachbiografischer Alternativen dienen.

In ihren Büchern setzen Bodrožić und Tawada nicht nur nationale Grenzen und nationalistische Werte in Beziehung, sondern vermögen diese zu überschreiten. Ein Individuum verfügt über die Möglichkeit, Grenzen zwischen Sprachen und Kulturen aufzulösen. Bodrožić schreibt in Alle Poesie ist supranational: „Äußere Grenzen sind Abbilder innerer Grenzen, mehrfach gebrochene mentale Spiegelungen, die unsere Welt zu einem hochkomplexen Netzwerk aus Haltungen, Einstellungen, regionalen Identitäten und kollektiven Systemen seelischer und intellektueller Art machen.“ Dieses komplexe Netzwerk, unsere Welt, kann aus unterschiedlichen Standpunkten erblickt, analysiert und betrachtet werden, wodurch Verständnis über die Verhältnisse zwischen Menschen, Sprachen und Kulturen erzielt wird. Einen eigenen Standpunkt zu finden heißt auch dementsprechend, sich in Beziehung zur Welt, den Mitmenschen und den Sprachen setzen zu können.

Grenzüberschreitungen an den Schnittstellen vom Bekanntem zum Unbekannten verwirklichen sich bei Bodrožić dadurch, dass Grenzen sowohl zwischen Genres als auch zwischen inneren und äußeren Welten verschwimmen. Ihre hochpoetische Sprache zeigt sich dem Leser wie eine Liebeserklärung zu allen Sprachen und konkretisiert sich dabei im Deutschen. Tawada ihrerseits erzeugt Grenzüberschreitungen in Form eines Ineinanderfließens von Welten, wobei Menschen, Träume und Realität, oder verschiedene Zeichensysteme Symbiosen bilden, sich verhaken oder einander auflösen. Es gelingt Ihr, das Deutsche zu verbildlichen, indem die Sprache beim Wort genommen wird und alltägliche Symbole durch eine „japanische Brille“ betrachtet werden.

Die Literatur bildet eine Universalsprache, weil sie keine Grenzen kennt. In ihrer Übersetzbarkeit und ihrer gleichzeitigen Unübersetzbarkeit wird das Paradoxon Ihrer Supranationalität und Einzigartigkeit deutlich. Gute Übersetzungen ermöglichen dem Leser, in ein Bild zu blicken, welches kleine Abweichungen und Veränderungen umfasst. Die Literatur bewegt sich durch Sprachen, passt sich ihnen an und verändert sich ständig. Im weiteren Sinne ist das Lesen selbst eine Grenzüberschreitung und eine Form des Teilens.

Robert Seitovirta war von März bis Juni 2018 Gastforscher am Finnland-Institut. In seiner Dissertation untersucht er die Verhältnisse zwischen Sprache, Identität und Mobilität in deutschsprachiger Literatur.

 

LITERATURVERZEICHNIS

Bodrožić Marica 2014: Alle Poesie ist supranational – Plädoyer für eine neue Kultur des Teilens.
https://www.marica-bodrozic.de/notizen/ [Stand: 21.6.2018]

Deleuze, Gilles/Félix Guattari 1977: Rhizom. Berlin: Merve Verlag GmbH.

McPake, Tinsley, Broeder, Mijares, Latomaa, Martyniuk 2007: Valuing All languages in Europe.
European Centre for Modern Languages. Council of Europe. http://archive.ecml.at/mtp2/publications/Valeur-report-E.pdf [Stand: 21.6.2018]

 

AUSGEWÄHLTE WERKE

Bodrožić, Marica 2012: Kirschholz und alte Gefühle. München: Luchterhand Literaturverlag.
Bodrožić, Marica 2014: Mein weisser Frieden. München: Luchterhand Literaturverlag.
Bodrožić, Marica 2015: Das Auge hinter dem Auge. Salzburg-Wien: Otto Müller Verlag.

Tawada, Yōko 2003: Talisman. 6. Aufl. Tübingen: Konkursbuchverlag Claudia Gehrke.
Tawada Yōko 2004: Wo Europa anfängt & Ein Gast. Tübingen: Konkursbuchverlag Claudia Gehrke.
Tawada Yōko 2007: Sprachpolizei und Spielpolyglotte: Literarische Essays. Tübingen: Konkursbuchverlag Claudia Gehrke.

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