Sprachensensibilität macht Schule
Sprachensensibilität bedeutet ein Gespür für den situationsbezogenen Gebrauch von Sprache. Sprachenbewusstsein ist in der Schulausbildung heute von immenser Bedeutung für alle – insbesondere, aber längst nicht nur, für Schüler_innen mit Migrationshintergrund. Für eine entschiedene Förderung der Sprachensensibilität im Schulunterricht setzt sich die finnische Pädagogin und Linguistin Elisa Repo ein. Im Frühjahr 2017 hielt sie sich als Gastforscherin am Finnland-Institut auf und verfasste für uns diesen Blogbeitrag zu ihrer Forschungsarbeit.
Schüler mit Migrationshintergrund zu unterrichten, hat Sprache auf ganz neue Art und Weise zu einem zentralen Bestandteil allen Lehrens werden lassen: Wie sollen verschiedene Fächer unterrichtet werden, wenn die Schüler die Zielsprache nur bruchstückhaft beherrschen? In der Öffentlichkeit werden Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund oft als Problem, Herausforderung, als Grund für gestresste Lehrerinnen und Lehrer dargestellt – „ohne Sprachenkompetenz”. Meine Schülerinnen und Schüler, denen ich ein Jahr lang Finnisch beigebracht habe, erzählen mir, dass sie Arabisch, Swahili, Estnisch, Tagalog, Singhalesisch, Griechisch, Spanisch, Italienisch und Russisch sprechen. Keiner von ihnen ist „ohne Sprachenkompetenz”. Sie sprechen viele verschiedene Sprachen – der Gruppenunterricht ist mehrsprachig.
Ich bin eine Lehrerin für finnische Sprache und Kultur in der Stadt Espoo in Finnland. Derzeit promoviere ich an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in angewandter Linguistik und Soziolinguistik. Aus den Jahren der Arbeit als Lehrerin für Finnisch als Fremdsprache hat sich mein Doktorarbeitsthema ergeben: 2015 erlebte ich die Integration von Flüchtlingen und anderen Migranten hautnah, als ich an einer Oberschule in Espoo eine multikulturelle Gruppe von Schülerinnen und Schülern unterrichtete.
In diesem Vorbereitungskurs hatte die Gruppe ein Jahr Zeit, alle Fähigkeiten zu erlernen, die sie brauchen, um am normalen Schulunterricht ihrer Altersklasse teilzunehmen. Reicht ein Jahr dafür aus? Natürlich nicht: In einem Jahr eignen sich junge Menschen in diesem Alter relativ schnell genügend Sprachkompetenz an, um im Alltag an sozialen Interaktionen teilzunehmen. Diese Leistung allein verlangt von den Lernenden viel Übung und auch, sich permanent eigenen sprachlichen Unzulänglichkeiten stellen zu müssen. Um am normalen Fachunterricht teilnehmen zu können brauchen die Lernenden jedoch akademische Sprachkompetenzen die zu erlangen nach verschiedenen Schätzungen fünf bis zehn Jahre dauert.
Dieser Nachteil, den meine Schüler aus dem Vorbereitungskurs haben, setzt sich selbst durch die Generationen hinweg fort: Die Ergebnisse der PISA-Tests von 2012 zeigen, dass Schüler, die als Kinder von Migranten in Finnland geboren wurden und von Anfang an in Finnland die Schule besuchten, im Durchschnitt schlechter abschnitten als Schüler aus alteingesessenen Familien. Selbst unter Einbeziehung des sozioökonomischen Status der Eltern blieb das Ergebnis ähnlich. Vielfalt sollte in einer Gesellschaft jedoch kein Hindernis für Chancengleichheit sein. In meinem Promotionsprojekt erforsche ich Gründe für das schlechte Abschneiden der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund und suche nach Lösungen. Dazu untersuche ich ihre Lebensrealität an der Schule und versuche, Zusammenhänge zwischen Praktiken zur Bewältigung des Alltags und schulischem Erfolg zu finden. Gemeinsam mit einer Grundschule in Espoo arbeite ich außerdem an dem Projekt „Sprachensensibilität für jedermann”, das als eines von 100 Projekten in das Programm „HundrED Innovations” gewählt wurde. Das Programm hat zur Aufgabe, anlässlich des 100. Jahrestages der finnischen Unabhängigkeit 100 Innovationen in der Pädagogik und Erziehungswissenschaft zu bewerben.
Sprachensensibilität bedeutet ein Gespür für den situationsbezogenen Gebrauch von Sprache: Es bedeutet, dass ich die linguistischen Eigenheiten der verschiedenen Schulfächer erkenne und sie den Schülern zu erklären. So würde ich einem 14jährigen, kürzlich eingewanderten Schüler zum Beispiel zeigen, wie er komplizierte Texte aus einem Biologiebuch mit Hilfe von Abbildungen entziffern kann, wie er die wichtigste Information aus einem Mathematikbuch herausfiltern kann oder wie eine gute und verständliche Antwort in einem Test strukturiert sein muss. Ich kann die Sprache der Schulbücher nicht ändern, doch ich kann den Schülern Tipps geben, mit der Sprache umzugehen. Diese speziellen „Fachsprachen“ lernen die Schüler am besten direkt im Fachunterricht. In einer sprachensensiblen Schule ist deshalb jede Lehrerin auch eine Sprachlehrerin. In unserem Projekt erarbeiten wir Werkzeuge für sprachenbewusstes Lehren, die jede/r Lehrende in den Unterricht einbauen kann.
Sprachenbewusstsein ist also nicht nur für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund von Bedeutung sondern für alle, da es die Vermittlung von Lese- und Schreibkompetenzen bedeutet. In einer multimedialen Gesellschaft ist die Schule heute der einzige Ort für junge Menschen, an dem sie täglich formaler Sprache ausgesetzt sind. Es kommt vor, dass Schüler mit guten Noten dafür belohnt werden, dass sie Dinge bereits wissen, bevor die Schule sie ihnen vermittelt. Das hat zur Folge, dass Schülerinnen und Schüler erfolgreicher sind, die bereits stilles Wissen über die Handhabung verschiedener Texte im Schulkontext haben. Damit „Talent“ und „Inspiration“ nicht unbedingt notwendig sind, um in der Schule gut abzuschneiden, muss ich den Schülerinnen Beispiele zeigen und sichtbar machen, wie sie Informationen suchen, sie bewerten, einordnen und analysieren, wie sie Konzepte definieren und Texte erstellen. Diese Fähigkeit, in verschiedenen Sprachgenres Zusammenhänge zu verstehen und den eindeutigsten Weg zu finden, sich auszudrücken, heißt „multiliteracy“. Niemand wird mit dieser Kompetenz geboren. Deshalb ist es wichtig, sie in jedem Unterrichtsfach zu lehren. Durch sprachensensibles Lehren gebe ich jedem die Chance, erfolgreich zu sein.
Ich ermutige jeden, Mehrsprachigkeit als Quelle von Inspiration für persönliches Wachstum und für ein besseres Verständnis der Welt zu verstehen. In Zeiten, in denen die soziale Ungleichheit zunimmt, in denen Schulen in „gute” und „schlechte” Orte zum Lernen eingeteilt werden und in denen fremdenfeindliche Rhetorik sich verbreitet, brauchen wir eine Debatte über die Einstellung gegenüber Sprachen und ihrer zentralen Bedeutung fürs Lernen, für soziale Interaktionen, für die Bildung einer Identität und für die Sozialisation in der Gesellschaft.
Dies ist ein Auszug aus Elisa Repos Blogbeitrag. Den vollständigen Artikel finden Sie hier.
Die Autorin promoviert an der Universität Mainz in angewandter Linguistik und Soziolinguistik und wird ab August 2017 als Dozentin für Sprach- und Kulturbewusstsein an der Universität Turku tätig sein.