VORTRAG in englischer Sprache in der Vorlesungsreihe Beyond Populism der Kultur- und Wissenschaftsinstitute Finnlands.
Die Nostalgie ist heute eine der wichtigsten Triebkräfte zeitgenössischer Politik. In der Wissenschaft ist sogar von einer „globalen Nostalgieepidemie“ die Rede, die unvorhersehbare Auswirkungen auf die Demokratie haben wird.
Historisch gesehen ist die Nostalgie im Wesentlichen ein moderner Zustand, ähnlich dem Kulturpessimismus, und wir finden sie von Zeit zu Zeit in westlichen politischen Theorien. Schon nach der Französischen Revolution zog das restaurative Denken wie eine Wolke über das politische Denken in Europa, und sie ist bis heute nie ganz gewichen – ein ideengeschichtlicher Bruch: Den neuen Gedanken aus der Zeit der Aufklärung wurde unterstellt, die Gesellschaft und die bewährte Ordnung geradezu zu „zersetzen“.
Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, die gegenwärtige Wechselwirkung von Nostalgie und Populismus zu analysieren. Hierbei werden vier Triebfedern der Nostalgie vorgestellt. Zum einen revolutioniert der technologische Umbruch, insbesondere die Digitalisierung, nach wie vor den Alltag von heute. Zum zweiten stimulieren geopolitische Änderungen nostalgische Politik sowohl in Ländern, deren Stellenwert im Wachsen begriffen ist, als auch in denen, deren Stern sinkt. Zum dritten prägen die demografischen Trends einer alternden Bevölkerung, der Urbanisierung und der zunehmenden Diversität die Politik überall in den westlichen Ländern, wobei die Intensität von Fall zu Fall variiert. Schließlich, jedoch nicht weniger bedeutungsvoll, sei der Wertewandel erwähnt, der bereits in der so genannten Stillen Revolution der späten 1960er-Jahre seinen Kristallisationspunkt erreichte und der gegenwärtig im Fokus des politischen Polarisierungsprozesses steht. Das Narrativ einer gesunden Ordnung, die aufgrund von progressiven Ideen „zersetzt“ werde, spielt hier eine zentrale Rolle – genauso wie in den Jahren nach der Französischen Revolution 1789.
Nostalgie bedeutet jedoch nicht, dass reflektives, bewusstes Denken gänzlich ausgeschaltet wäre. Nostalgie sollte nicht ohne weitere Begründung abgelehnt oder verurteilt werden: Insbesondere nicht reflektierte Nostalgie ist politisch gefährlich.
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Dr. Antto Vihma, geboren 1978, ist Forschungsleiter im Global Security Programme am finnischen Außenpolitischen Institut (FIIA) und hat eine Privatdozentur an der Universität von Ostfinnland inne. Vihma hat zahlreiche Artikel zu internationaler Politik sowie Steuerungs- und Regelungssystemen verfasst, die unter anderem in namhaften Publikationen wie International Affairs, Geopolitics und Global Environmental Politics erschienen sind. Vihma war 2015 und 2016 Gastforscher am Massachusetts Institute of Technology in Boston/USA und 2013 an der Universität SciencesPo in Paris. Darüber hinaus hat Antto Vihma zusammen mit dem Historiker Dr. Miika Tervonen 2017−2019 den beliebten Podcast Päivystävät dosentit (dt. Diensthabende Dozenten) für den Finnischen Rundfunk YLE erstellt (24 Folgen). Mit Unterstützung der Emil-Öhmann-Stiftung ist Vihma im Mai 2021 als Gastforscher am Finnland-Institut in Deutschland tätig.