Von der Besessenheit: Annika Tudeer im Interview
Oblivia ist eines der bekanntesten finnischen Performance-Ensembles und steht mittlerweile für über zwanzig Jahre bühnenkünstlerischen Erfindungsreichtum: Mit minimalistischer Herangehensweise nähert Oblivia sich großen gesellschaftlichen Fragen. Am 3. Dezember 2022 hat nun „Obsessions“, der zweite Teil der experimentellen Musiktheater-Trilogie „Politik und Gefühle“, in Wuppertal Premiere. Katharina Weingärtner hat die künstlerische Leiterin Annika Tudeer im Vorfeld interviewt.
Worum geht es bei Obsessions, und wie kam es dazu, dass das Stück in Wuppertal aufgeführt wird?
Wir wurden für das Projekt NOperas in Nordrhein-Westfalen ausgewählt. Dabei geht es um neues, experimentelles Musiktheater, das an und mit großen Institutionen erarbeitet wird, wie in unserem Fall mit dem Stadttheater Bremen, wo Obsessions bereits im Februar aufgeführt wurde, und der Oper Wuppertal.
Obsessions handelt auf originelle und humoristische Weise von den „Besessenheiten“ und Leidenschaften der Menschen. Das Stück nimmt die Zuschauenden auf eine Zeitreise vom Bau der Pyramiden bis in die Gegenwart, quer durch die Welt, mit und wirft dabei ein Licht auf die immer wiederkehrenden menschlichen Begierden – Kräfte, die auch die Geschichte beeinflussen.
Der erste Teil der Trilogie trägt den Namen Verdrängen, verdrängen, verdrängen. Die Sprache ist hauptsächlich Englisch, das Stück trägt aber einen deutschen Titel. Wie kam es dazu und was für eine Bedeutung hat der deutsche Titel für Sie?
Genau, der Name des Werkes lautet Verdrängen, verdrängen, verdrängen. Wir mögen das deutsche Wort „verdrängen“, da es so viele Bedeutungen in sich vereint. Die deutsche Sprache ist so vielfältig und gleichzeitig aber auch sehr genau. Das Wort „verdrängen“ vereint in sich verschiedene Bedeutungen, wie: das Abschieben von Menschen, das Verdrängen von Erinnerungen oder auf vielen Ebenen auch das Verdrängen von Geschehenem. Dies kann auf politischer, emotionaler, sozialer und vielen anderen Ebenen passieren. Deswegen haben wir für den Titel das deutsche Wort gewählt. Die Wiederholung des Wortes ist auch ein unverwechselbares Merkmal unserer Ästhetik und es ist auch ein ohnehin sehr übliches Merkmal in der Welt, dass sich Sachen wiederholen und wiederholen. Im Stück sprechen wir auch Deutsch.
Kann man den Titel mit der europäischen und insbesondere der deutschen Geschichte in Verbindung bringen?
Ja, auf jeden Fall. Alles, was unsere Oblivia-Welt mit Deutschland verbindet, steht auch in Verbindung mit der deutschen Geschichte: Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust, aber auch die Wende 1989 und aktuellere Geschehnisse in der deutschen Geschichte. Wir, und damit meine ich die Menschen in Europa, haben erst jetzt verstanden, wieviel das Jahr 1989 und der Fall der Mauer bedeutet haben und wie die Geschehnisse dieser Zeit uns bis heute noch beeinflussen. Wir bei Oblivia haben unsere Aufmerksamkeit auch auf den Gebäudeboom in den Großstädten gelegt, wo heutzutage große Firmen von supranationalen Investoren das Stadtbild verändern und gleichzeitig auch etwas „verdrängen“ und sogar vernichten: Menschen, Erinnerungen, die Atmosphäre, kleine Städte, Kultur und viel mehr. Das, woraus die Städte bestanden, bevor große Einkaufszentren und Immobilieninvestoren die Vorherrschaft übernahmen.
Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach das deutschsprachige Europa für die europäische Kulturszene?
Für uns ist das deutschsprachige Europa sehr wichtig, denn wir haben eine starke Bindung zu Deutschland. Im Übrigen besteht in Deutschland eine sehr rege, aber auch kritische Diskussionskultur, auch zu Kultur und Politik. Und das Kulturleben in Deutschland ist weiterhin besonders neugierig.
Viele von Oblivias Performances sind Improvisationen. Gilt das auch für die neue Aufführung?
Unsere Aufführungen auf großen Bühnen waren niemals improvisiert. Aber wir improvisieren viel während des Entstehungsprozesses unserer Werke und das ist auch bei unserer neuen Performance so, denn die Improvisation ist der Teil des Prozesses, in dem die Struktur des Werkes entsteht und der Inhalt geschaffen wird. Während unserer Aufführungen auf der Bühne ist aber alles festgelegt und wir spielen von Aufführung zu Aufführung das gleiche Programm. Als Ensemble sind wir geradezu zusammengeschweißt. Jetzt ist es sehr interessant, wie wir zusammen mit den Schauspielern der Oper Wuppertal an die Produktion herangehen werden.
Übersetzung aus dem Finnischen: Katharina Weingärtner