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Aurora Reinhard © Finnland-Institut/Kuva: Maija Toivonen

“Die Kunst an sich kann ein Fetisch sein”

Die in Helsinki lebende bildende Künstlerin Aurora Reinhard, geboren 1975, ist eine der bekanntesten Künstler_innen des heutigen Finnlands. Durch die Kunst betrachtet Reinhard Geschlecht und Sexualität in dem von unserer Gesellschaft gebotenen kulturellen Kontext. Maija Toivonen interviewte sie zu ihrer Arbeit als Künstlerin und dazu, was Aurora Reinhard inspiriert.

Aurora Reinhard braucht man in Finnland unter Kunstinteressierten kaum vorzustellen. Sie schloss ihr Masterstudium 2003 an der Akademie für bildenden Künste in Helsinki (heute: Universität der Künste Finnlands) ab und studierte an der Universität Göteborg und am International Center for Photography in New York Fotografie. Mit Fotografie, Videokunst und multidimensionalen, hyperrealistischen Objekten thematisiert Aurora Reinhard in ihrem Schaffen Geschlechterrollen sowie Geschlecht und Sexualität im Alltag.

Aurora Reinhard interessierte sich schon als junge Künstlerin für die Thematik der Geschlechter. Selbstporträts faszinierten sie schon immer.

„Meine Perspektive war am Anfang geradezu arglos, wie die eines Kindes. Alles, was ich fühlte, ließ ich einfach raus. In der Schulzeit machte ich viele Selbstporträts, aber irgendwann bemerkte ich, dass sie viel zu persönlich waren. Ich habe mich damals in meiner eigenen Haut noch nicht wohl genug gefühlt und wollte dann doch nicht von mir selbst erzählen. Jetzt, viele Jahre später, ist es spannend, diese Arbeiten wieder anzuschauen.“

Um die Aufmerksamkeit von sich wegzulenken begann Aurora Reinhard, andere Menschen aufzunehmen. Von der Thematik des Geschlechts und der Identität handelt ihre experimentelle Videoarbeit Poikatyttö (2002, dt. jungenhaftes Mädchen), durch die sie in das Bewusstsein der finnischen Kunstszene drang. In der Dokumentation reflektieren biologisch als Frau geborene, aber vom Aussehen her als männlich wahrgenommene Personen die eigene Identität und beschreiben, wie Menschen darauf reagieren, wenn das biologische Geschlecht dem Aussehen nicht entspricht. Das Werk kam sowohl in Finnland als auch international gut an und wurde mit dem internationalen Medienkunstpreis des Zentrums für Kunst und Medien Karlsruhe ZKM ausgezeichnet. Die Dokumentation ist Teil der staatlichen Kunstsammlung Finnlands; auch das namhafte Wäinö-Aaltonen-Museum in Turku erwarb das Werk 2017 für seine Sammlung. Es erfüllt Aurora Reinhard mit großer Zufriedenheit, dass das Werk auch ihr eigenes Leben „wiederbelebt“ hat, und den Gedanken, dass Poikatyttö als zeitloses Werk sein Dasein jetzt nicht in Archiven fristet, findet sie geradezu herzerwärmend.

In ihrer Videoarbeit Female wiederum (2003) beschäftigte sich Reinhard mit weiblicher Identität, indem sie drei Transmenschen interviewte, deren männliches Geschlecht in das weibliche umgewandelt worden war. Das Werk geht darauf ein, dass die Identität nach der Transition in gewisser Weise komplett neu geschaffen werden muss. Gleichzeitig reflektiert die Künstlerin über sich selbst und über ihre eigene Identität – was für eine Frau bin ich eigentlich? Den Jahreswechsel 2004–2005 verbrachte Aurora Reinhard in einer Künstlerresidenz in Tokio – ein eindrucksvolles Erlebnis. Während dieser Zeit fand die Visualität von Reinhards heutiger Kunst ihre Form. Seither interessiert sie sich besonders für Fetische, die ihrer Meinung nach überall zu finden sind.

„Japan ist irgendwie eine sehr fetischistische Gesellschaft. Sogar die Kunst kann an sich ein Fetisch sein, ein Gegenstand, den man unbedingt besitzen will. Natürlich gibt es auch Kunst, die nur im übertragenen Sinne ein „Fetisch“ ist, wie zum Beispiel Videokunst, die als solche kein physischer Gegenstand ist.“

Neben Fotografie und Video interessierte Aurora Reinhard auch das Schaffen von Kunst mit ihren eigenen Händen, worin ihr allerdings die Erfahrung fehlte. Von dem finnischen Bildhauer Jiri Geller lernte sie einige Techniken zur Umsetzung ihrer Werkideen. Heutzutage kreiert Reinhard nicht nur Fotografien und Videos, sondern auch Installationen. Darin verwendet sie beispielsweise Gegenstände aus Sexshops oder den Inhalt einer Handtasche zum Schaffen multidimensionaler Werke, die gleichermaßen die Sinne und den Intellekt des Betrachters berühren. Viele ihrer Arbeiten stellen Kommentare älterer Kunstwerke dar, für die Reinhard in den neuen Werken eine vom Referenzwerk abweichende Form findet.

Die Ausstellung in Essen ist für Aurora Reinhard keineswegs die erste in Deutschland. Ihre Werke wurden bereits im Deutschen Historischen Museum in Berlin (2015) und in der Gruppenausstellung Dreamaholic – Kunst aus Finnland im Weserburg Museum für moderne Kunst in Bremen (2017) gezeigt. Aurora Reinhard hat als Tochter eines deutschen Vaters auch eine persönliche Beziehung zu Deutschland, weswegen es ihr wichtig ist, dort auch als Künstlerin an Boden zu gewinnen. Den Bekanntheitsgrad als unbeschriebenes Blatt über die lokale oder regionale Ebene hinaus auf die nationale zu erheben, ist für Aurora Reinhard eine große Herausforderung. In die finnische Künstlergemeinschaft ist sie im Laufe der Jahre hineingewachsen, während sie außerhalb Finnlands von Null anfangen muss.

„Es ist wichtig, die eigenen Ressourcen als Künstlerin richtig einzuschätzen und sich zu überlegen, mit welchen Werken man bei einer Ausstellung das Beste rausholt. Man muss abwägen, ob es sich lohnt, experimentelle, ‚riskante‘ Werke zu präsentieren. Gleichzeitig sollte die Arbeit aber auch für einen selbst motivierend sein. Ich bin so gelagert, dass ich mich entweder hundertprozentig mit etwas befasse oder es mich überhaupt nicht interessiert.“

Damit, dass sie es geschafft hat, als Künstlerin all die Jahre auf lange Sicht zu arbeiten und das Interesse anderer an ihrer Kunst aufrechtzuerhalten, ist Aurora Reinhard sehr zufrieden. Sie findet dies alles andere als selbstverständlich, da in der Kunstwelt ständig neue, interessante Talente auftauchen. Dem finnischen Stipendiensystem, das ihr eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit ermöglicht hat, habe sie viel zu verdanken, meint Aurora Reinhard.

„Ich träume davon, dass ich in zwanzig Jahren eine Sammlung von großartigen Werken besitze, auf die ich stolz sein kann.“

Aurora Reinhards Soloausstellung wird am Sonntag, dem 27. Mai 2018, um 12 Uhr im Kunstverein Ruhr in Essen eröffnet und ist dort bis 2. September 2018 zu sehen.

Maija Toivonen war vom 21.8.2017-13.7.2018 als Volontärin und ist seitdem als Projektmanagerin am Finnland-Institut tätig.

Maija Toivonen toimi Suomen Saksan-instituutissa harjoittelijana 21.8.2017-13.7.2018 ja sen jälkeen projektisuunnittelijana.

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