Komm, lass uns weinen gehen
Der Maler Jukka Korkeila ist einer der bekanntesten zeitgenössischen finnischen Künstler. Seine Werke zeichnen sich durch ihre unverhüllte Kompromisslosigkeit sowohl bezüglich der Themenwahl als auch der Malerei selbst aus. Im Juli 2021 hat Sylvia Metz ihn besucht und mit ihm unter anderem über seine Ausstellung im Finnland-Institut gesprochen, die zum Zeitpunkt des Gesprächs noch in Planung war.
Wir sitzen hier in deinem Atelier in Ortenberg in der Wetterau. Wie kommt es, dass du dein Atelier hier auf dem Land bezogen hast, weit weg von der nächsten Großstadt?
Zunächst muss ich sagen, dass ich die Landschaft sehr mag. Aber es hatte vor allem private Gründe, dass ich im Moment hier lebe. Mit meinem deutschen Partner Markus Karger lebe ich eigentlich an drei Orten: in Berlin, Helsinki und Glauburg-Stockheim. Und ich habe zwei Ateliers, eins in Berlin und eins in Ortenberg. Es ist hier aber gar nicht so idyllisch, wie man vielleicht denkt. Neulich hat ein älterer Herr versucht, mich mit seinem Mercedes-Benz zu überfahren, als ich auf einer ruhigen Landstraße unterwegs war.
Wow, das sind ja Zustände wie in Neukölln. Aber Spaß beiseite – fehlt dir Finnland manchmal?
Ja, ich vermisse Finnland, denn im Gegensatz zu Finnland will Deutschland, eines der reichsten Länder der Welt, seine Künstler*innen so gut wie gar nicht subventionieren und überlässt alles der Marktwirtschaft. In Deutschland beansprucht eine kleine Gruppe von Künstler*innen den Großteil des Geldes, das in der Kunstwelt zirkuliert, und somit ist das finanzielle Gefälle innerhalb der Kunstszene hier viel größer als in Finnland.
Es gibt eine Reihe guter Stipendienprogramme, was denkst du darüber?
In Finnland gibt es selbst in vergleichsweise kleinen Städten Kunstmuseen, die vorwiegend mit staatlichen und kommunalen Mitteln finanziert werden. Das ist Teil der Förderung der bildenden Kunst in Finnland, die in Deutschland seltener ist. Was die Stipendien in Deutschland betrifft, kenne ich zumindest keinen dauerhaft in Deutschland lebenden Künstler, der ein langfristig angelegtes Stipendium erhalten hat.
Lass uns über deine Kunst und deine Ausstellung im Finnland-Institut sprechen. Worum geht es genau?
Ich habe eine Theorie, nach der alle Finnen zu einer weit verzweigten Familie von Klageweibern gehören. Meine eigene Verbindung zur karelischen Klagelieder-Tradition findet sich bei meiner Großmutter. Während des Zweiten Weltkriegs kam sie als Flüchtling aus dem heutigen Karelien, dem an die Sowjetunion abgetretenen Gebiet. In einer Situation, in der andere nicht weinen können, fungiert der Künstler als Ersatz-Weinender, der mit der karelischen Tradition der weinenden Frauen verglichen werden kann. Deren Funktion in der Beisetzungstradition besteht darin, die Angehörigen auf die Trauer vorzubereiten und das kollektive Weinen zu wecken. Dies fehlt in der heutigen finnischen Kultur völlig. In meiner Ausstellung setze ich mich damit auseinander, aber das Thema ist natürlich viel komplexer und hat mehrere Ebenen, die ich öffnen möchte.
Welche Ebenen meinst du?
Seit Jahrzehnten beobachte ich, wie Deutschland mit seiner jüngeren Geschichte zu kämpfen hat, vor allem mit dem Holocaust, der respektvoll aufgearbeitet wird. Als Ausländer in Deutschland habe ich das Gefühl, dass ich mich nicht mit der deutschen Geschichte befassen sollte, aber ich tue es trotzdem, weil ich während des Zweiten Weltkriegs hier in Deutschland wegen meiner Homosexualität in ein Konzentrationslager hätte geschickt werden können. In Deutschland werden die Schuld und die Last des Krieges immer noch an die neue Generation weitergegeben und die Schuld bleibt ohne kollektive Reue ungesühnt. Deutschland bräuchte auch ein kollektives Sakrament der Buße.
Wie könnte ein solches Sakrament – und damit eine generationenübergreifende Heilung – aussehen?
Stell dir mal vor, unsere noch amtierende Bundeskanzlerin hätte die Neujahrsansprache im Fernsehen weinend präsentiert. Als emotionale Anführerin der Deutschen weint Angela Merkel und das ganze Land bricht mit ihr in ein kollektives, großes Weinen aus. Deutschland hat es nie geschafft, seine unterdrückte Trauer zu verarbeiten und sich zu öffnen, um sich die Schrecken des Zweiten Weltkriegs zu verzeihen. Deutschland ist wie eine Mutter, die ihren Kindern beigebracht hat, nicht zu weinen. Weinen tut Deutschland aber auch gut.
Im Grunde schlägst du Deutschland vor, eine Gruppenpsychoanalyse zu machen. Mich würde interessieren, ob du das Finnland auch vorschlagen würdest?
Schwer zu sagen. Finnland steht an der Spitze der weltweiten Glücksstatistiken, obwohl es in jeder Familie einen Alkoholiker gibt und die Selbstmordstatistik für sich spricht. 2021 schickte Finnland den Song Dark Side der Band Blind Channel beim Eurovision Song Contest ins Rennen, der mich vor allem an die positive Einstellung der Finnen zum Rausch, zum damit verbundenen selbstzerstörerischen Verhalten und zur emotionalen Ohnmacht von Männern und auch Frauen erinnert. In diesem Lied wird das Weinen als Lähmung dargestellt. Aggressivität ist für Finnland eine akzeptablere Form des Verhaltens als Weinen, das als Ausdruck von Schwäche verstanden wird. Wir sollten uns von der mit dem Weinen verbundenen Scham befreien.
Was bedeutet Weinen für dich ganz persönlich?
Weinen hat mir immer geholfen. Es gibt drei Arten von Tränen: Trauer, Freude und heilende Tränen. Sie können getrennt voneinander auftreten oder als Mischformen erscheinen. Mein Weinen war immer mit Traurigkeit, Angst oder Freude verbunden. Ich habe zum Beispiel heimlich geweint, während ich aus einem Flugzeugfenster starrte, oder ich habe in einem Schwimmbad in meine Schwimmbrille geweint, damit es niemand bemerkte. Ich habe auch, wenn es nötig war, in der Öffentlichkeit geweint.
In einigen deiner Bilder zeigst du einen Typus des männlichen Körpers, der bewusst nicht einem klassischen Schönheitsideal entspricht. Was fasziniert dich daran, die männliche Sexualität so zu zeigen?
Klassische Schönheitsideale stammen aus der antiken griechisch-römischen Bildhauer-Tradition, die für die Herrscher und Künstler totalitärer Regime schon immer von Interesse war. Dennoch interessieren sich nicht alle Menschen für die klassischen Schönheitsideale und die körperliche und sexuelle Vielfalt ist enorm. In diesem Zusammenhang werden meine Arbeiten zu Gegensätzen klassischer Schönheitsideale und bilden eine Gegenkraft zu beispielsweise der algorithmischen Bilderwelt von Instagram, die ein globales und faschistisches Körperideal simuliert.
Gibt es deiner Meinung nach heutzutage noch so etwas wie „das starke Geschlecht“?
Die Polarität der beiden Geschlechter verschwindet und wir treten in eine neue Ära mit unzähligen sexuellen Identitäten ein, in der auch die klaren Grenzen der verschiedenen Identitäten verschwinden. Das bedeutet auch, dass sich der Fokus auf die zahllosen Geschlechter auflösen wird. Stattdessen werden der Mensch selbst und die Menschlichkeit, hinter der eine Seele steht, die selbst kein Geschlecht hat, im Mittelpunkt stehen.
Wenn du von der Seele sprichst, fällt mir die Ikone in deinem Atelier ein. Bist du ein gläubiger Mensch?
Ein Leben ohne Transzendenz würde ein Leben ohne Freude und Hoffnung bedeuten. Meine Arbeit Oneness of Purpose zum Beispiel ist ein Symbol der Hoffnung und Freude, das uns in Richtung Jenseits trägt. Religion und Spiritualität bringen uns zurück zu einer Verbindung und Einheit von allem.
Welche Bedeutungsebenen stecken für dich in Oneness of Purpose in der Kombination von Regenbogenflagge und ost-orthodoxem Kreuz?
Mein Kunstwerk ist als Zeichen des Mitgefühls für sexuelle Minderheiten gedacht, insbesondere in Osteuropa. Das Problem in vielen Ländern ist die Entfremdung zwischen sexuellen Minderheiten und religiösen Fundamentalisten, uns fehlt ein gemeinsames Forum, wo wir einen Dialog miteinander beginnen könnten. Die orthodoxe Regenbogenflagge ist für beide Seiten des Streits eine Verlängerung des Olivenzweigs, eine Einladung, sich an einen Tisch zu setzen und einen Kompromiss für eine gemeinsame Zukunft zu suchen.
Ich bin mir sicher, dass deine Ausstellung einen wesentlichen Beitrag dazu leisten wird. Vielen Dank für das inspirierende und offene Interview.
Ich danke dir. Es war mir eine große Freude. Hast du Lust, zusammen weinen zu gehen?
Redaktionelle Bearbeitung: Roosa-Maria Muilu
Dieses Interview ist eine gekürzte Fassung des Beitrags Komm, lass uns weinen gehen im Ausstellungskatalog Jukka Korkeila: Ganz Finnland weint – Tränen der Trauer, der Freude und des Heilens. Der Katalog steht hier für Sie zum freien Herunterladen (3,8 MB) zur Verfügung. Das Buch selbst können Sie zum Preis von 10 EUR zzgl. Porto direkt am Finnland-Institut bestellen: Tel. 030-40 363 18 90, info@finstitut.de.
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Jukka Korkeila ist 2022 im Rahmen des Programms Visiting Art/ist Gastkünstler am Finnland-Institut. Weitere Informationen: Visiting Art/ist 2022: Jukka Korkeila | Ganz Finnland weint – Tränen der Trauer, der Freude und des Heilens.