LESUNG UND LITERATURGESPRÄCH im Rahmen der Ausstellung Do you remember?. Verleger Sebastian Guggolz im Gespräch mit der Übersetzerin Reetta Karjalainen.
»So verging der Frühsommer. Die Nacht war zeitweise fast nicht vorhanden, das Weltall hielt gewissermaßen nur ganz kurz den Atem an, während es vom vergangenen Abend in den nächsten Morgen hinüberwechselte.«
Jung entschlafen ist eines der zentralen Werke im Schaffen des großen finnischen Erzählers Frans Eemil Sillanpää. Der Schwindsuchttod des 22-jährigen schönen Landmädchens Silja steht am Anfang und am Ende des Romans mit dem Untertitel Eines Stammbaums letzter Trieb. Die Handlung beginnt mit dem Unglück der Eltern, einfacher Bauern, die ihren Hof verlieren und nacheinander sterben. Silja, die einzige Tochter, muss sich nun als Dienstmädchen auf fremden Höfen durchschlagen, bis sie in den Haushalt eines freundlichen alleinstehenden Professors kommt. Dort erlebt sie zu Mittsommer ihre erste Liebe mit dem Studenten Armas, der zur Sommerfrische aufs Land gekommen ist. Armas zieht aber am Ende des Sommers in den Krieg und wird verwundet. Auch an Silja geht der finnische Bürgerkrieg 1918 nicht spurlos vorüber, sie gerät zwischen die Fronten, weil sie ihrer inneren Stimme der Menschlichkeit folgt und sich von keiner Partei vereinnahmen lässt.
Auch Sillanpää schlägt sich auf keine Seite, sondern bleibt ganz nah bei seiner Protagonistin Silja, deren Schicksal wir Leser dadurch hautnah miterleben. Reetta Karjalainen hat erstmals die vollständige Fassung, die uns Sillanpääs ganze Kunst der Einfühlung und der Zuneigung den Menschen gegenüber vor Augen führt, ins Deutsche übertragen.
Frans Eemil Sillanpää (1888–1964) ist der bisher einzige finnische Literaturnobelpreisträger. Als Sohn einfacher Hofbesitzer wurde er zur Schulbildung ans Gymnasium nach Tampere und anschließend zum Studium der Medizin an die kaiserliche Alexander-Universität nach Helsinki geschickt. Er brach das Studium ab, kehrte zurück aufs Land, gründet dort eine Familie und begann literarisch zu arbeiten. 1919 entstand der Roman Frommes Elend. 1923 erschien Hiltu und Ragnar ein kurzer Spin-Off-Roman, in dem Sillanpää das Schicksal von Hiltu, einer Nebenfigur aus Frommes Elend, weiterverfolgte. 1931 nahm er den Faden wieder auf und schrieb mit Jung entschlafen ein Gegenstück zu Frommes Elend, das in der gleichen Zeit spielt. 1939 wurde Sillanpää der Nobelpreis für Literatur zugesprochen, für den er seit 1930 wiederholt vorgeschlagen worden war.
Reetta Karjalainen wurde 1973 als Tochter eines finnischen Journalisten-Ehepaares in Kranj/Slowenien geboren, wuchs bilingual – finnisch-deutsch – auf, studierte in Wien Fennistik, Finno-Ugristik und Deutsche Philologie und lebt als Übersetzerin in Wien und Yläne/Finnland. Von Frans Eemil Sillanpää übersetzte sie bereits Frommes Elend (gemeinsam mit Anu Katariina Lindemann) und Hiltu und Ragnar.
“Finnland wird 100” in Deutschland