facebook
post photo
© Aino Väänänen

Durch den Beton hindurch

„Dandelions” (dt. Löwenzahn) ist ein langfristiges dokumentarisches Fotoprojekt der in Berlin lebenden finnischen Künstlerin Aino Väänänen. Es wird im Rahmen des Visiting Art/ist-Programms des Finnland-Instituts erstmals als Ausstellung präsentiert. Seit 2018 dokumentiert Väänänen das Leben von Menschen in Rumänien, die von der Opioidkrise betroffen sind – viele von ihnen leben mit HIV oder einem erhöhten Infektionsrisiko und sind durch soziale Ausgrenzung und gesellschaftliche Stigmatisierung betroffen. Durch die langjährige Begleitung und den bewussten Wandel von klassischem Fotojournalismus hin zu einer langsameren, kollaborativen Arbeitsweise vermittelt „Dandelions” einen echten und gleichzeitig einfühlsamen Einblick in Lebensrealitäten, die sonst oft ungesehen bleiben. Das Projekt läuft weiter – Väänänen kehrt regelmäßig nach Rumänien zurück und hält den Kontakt zu vielen der porträtierten Personen aufrecht.

 

„Ich war neugierig darauf, nach Rumänien zu fahren“, erinnert sich Väänänen an die Anfänge ihres Projekts. „Ich habe zwar Südosteuropa-Studien studiert, aber mir wurde klar, dass ich über Rumänien kaum etwas wusste.“ Ihre erste Reise führte 2017 nach Bukarest, wo sie über Kontakte eine Sozialarbeiterin kennenlernte, die mit einem Krankenwagen Menschen mit Opiatabhängigkeit unterstützte. „Durch diese Fahrten hat sich mir diese Welt eröffnet. Ich habe Menschen getroffen, Lebensgeschichten gehört. Und manchmal zeigten mir Menschen, vor allem Frauen, ihre Narben – als wollten sie mir auf diese Weise, ohne gemeinsame Sprache, zeigen, was sie durchgemacht haben.“

Dandelions hat sich von einem eher klassischen fotojournalistischen Ansatz zu dem entwickelt, was Väänänen als „immersiven“ Stil bezeichnet. Anfangs arbeitete sie mit einer Digitalkamera, wechselte jedoch bald zur Mittelformatkamera – eine Entscheidung, die ihre Beziehung zu den Porträtierten vertiefte. „Diese Arbeitsweise verlangsamte den Prozess und vermittelte den Menschen: Das hier ist etwas anderes – keine flüchtige Momentaufnahme, sondern ein echtes Interesse an ihrer Geschichte.“

Vertrauen und Kontinuität sind dabei zentrale Elemente. Väänänen reist regelmäßig nach Rumänien und bleibt mit vielen der fotografierten Personen in Kontakt. Sie verbringt mehrere Tage mit jeder Person, um Raum für echte Begegnungen zu schaffen. „Auf beiden Seiten der Kamera ist viel Vertrauen nötig“, sagt sie. „Das Thema ist sehr sensibel, und ich hoffe, dass ich die Geschichten der Menschen mit der nötigen Würde erzählt habe.“

Statt ausschließlich Hoffnungslosigkeit zu zeigen, richtet Dandelions den Blick auf Überlebenswillen, Würde und die Komplexität der Lebensrealitäten. „Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, die Situation sei nur hoffnungslos. Viele Menschen kämpfen sich durch äußerst schwierige Umstände. Mein Fokus liegt auf dem Überleben – ehrlich, aber mit Mitgefühl.“ Auch die Bildsprache spiegelt diese Haltung wider. Wiederkehrende Motive sind Hände und Arme mit Tattoos, Narben oder verstopften Venen. „Hände zeigen Leben und Erlebtes. Sie erzählen Geschichten – wie bei Denisa, die sich eine Mohnblume tätowieren ließ, aus der Opium gewonnen wird, mit einem Totenkopf im Inneren.“

Die Protagonist*innen in Dandelions werden als selbstbestimmte Menschen mit Tiefe dargestellt, wie etwa Roxana, die in den frühen 2000er-Jahren begann, Drogen zu konsumieren. Sie zählt zur „ersten Generation“, die nach dem Ende des Ceaușescu-Regimes Zugang zu Betäubungsmitteln hatte. Oder Ramona, die an Eierstockkrebs operiert worden war und voller Stolz ihre Operationsnarbe zeigte – für sie ein Zeichen des Überlebens. „Sie wurde mehrfach abgewiesen, da sie Frau, Romni, opioidabhängig und Sexarbeiterin war. Am Ende fand sie doch noch einen Arzt, der sie operierte. Das rettete ihr das Leben.“

Das Projekt umfasst Menschen aus ganz unterschiedlichen Lebensumständen – von Obdachlosigkeit bis hin zu Mehrgenerationenhaushalten. „Die meisten sind nicht obdachlos“, erklärt Väänänen. „Manche haben Schwierigkeiten, sich ihr Dach über dem Kopf weiterhin zu erhalten, andere leben seit Jahren auf der Straße. Ich wollte zeigen, dass Opiatabhängigkeit Menschen aus ganz verschiedenen sozioökonomischen Hintergründen betrifft.“

Eine dieser Geschichten ist die von S., einem trans Mann, der nach Bukarest zog, um Zugang zu einer Methadonbehandlung zu erhalten, die es in seiner Heimatstadt Iași nicht gibt. Seine Geschichte verweist – wie viele in der Ausstellung – auf strukturelle Lücken im Gesundheitssystem, die durch Diskriminierung noch verstärkt werden. „Er lebt jetzt seit ein paar Jahren in Bukarest und hat mit Sucht zu kämpfen. Inzwischen hat er es geschafft, vom Heroin loszukommen, und ist sehr stolz darauf. Er hat mir eine Sprachnachricht geschickt, in der er erzählt, dass ihm auch die Fotografie geholfen hat – das macht mich besonders glücklich.“ Neben den Fotografien umfasst die Ausstellung eine Audioinstallation mit Feldnotizen, Sprachnachrichten und aufgezeichneten Gesprächen. „Ich stehe fortlaufend im Dialog mit den Menschen, die ich fotografiere“, meint Väänänen.

Sie reflektiert auch über die ethischen und politischen Fragen der Darstellung. „Es gibt Fotograf*innen – sowohl aus dem In- als auch dem Ausland, die Menschen fotografieren, ohne sie vorher um Erlaubnis zu fragen. Das interessiert mich nicht. Für mich ist es entscheidend, dass die Menschen, die ich porträtiere, zustimmen und verstehen, woran sie teilnehmen.“ Für Väänänen lässt der Mythos des objektiven Beobachtens, der „Fliege an der Wand“, im zeitgenössischen dokumentarischen Arbeiten nach. „Es gibt immer eine Geschichte, die erzählt wird. Ich nehme mich nicht völlig heraus – wir führen ein Gespräch.“

Viele der Menschen, die sie fotografiert, gehören zur Roma-Community oder haben tiefgreifende persönliche und generationenübergreifende Traumata erlebt. „Es gibt bestimmte Aspekte, die typisch für die rumänischen Geschichten sind“, sagt Aino Väänänen und verweist auf historische Beispiele wie das Abtreibungsverbot unter Ceaușescu, Dekret 770, das zur Waisenhauskrise führte. „Es gibt viel Schmerz und Trauma, das Menschen mit sich tragen – genau das sichtbar zu machen, war mir wichtig.“

Trotz dieser Intensität vermeidet Dandelions jede Form von Sensationslust. Väänänens Arbeit bewegt sich in einem feinen Gleichgewicht – nah und respektvoll, kritisch und dennoch menschlich. „Ich glaube, große Themen brauchen Zeit“, sagt sie. „Der Wille zu überleben, selbst in den verzweifeltsten Situationen, bewegt mich sehr. Es ist ein Thema, das mich einfach nicht loslässt.“ So entstand auch der Titel: Dandelions, Löwenzahn – eine Pflanze, die sich durch Betonrisse kämpft, die unter härtesten Bedingungen wächst, getrieben von einem unerschütterlichen Überlebenswillen. Genau diese Kraft sieht Väänänen in den Menschen, die sie porträtiert.

© Aino Väänänen

Aino Väänänen ist eine visuelle Geschichtenerzählerin und Dokumentarfotografin, die in Berlin lebt. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich auf sensible Weise und mit starkem Realitätsbezug mit dem Themenkomplex sozialer (Un-)Gerechtigkeit. In ihren Projekten hat sie beispielsweise die Opioid-Krise in Rumänien, LGBTQI+-Gemeinschaften in Russland und der Ukraine sowie Umweltveränderungen in Nordskandinavien untersucht. Ihre Arbeiten werden international ausgestellt; 2022 wurde Väänänen vom Northern Photographic Centre, Oulu, zum Visual Artist of the Year gewählt. Sie ist außerdem Herausgeberin von We Shall See, einem unabhängigen Fotografie-Zine, hat Fotografie unterrichtet und ist Mitglied der Kommunikationsreserve des Roten Kreuzes. Väänänen hat an der Universität Helsinki ihren Master-Abschluss in Slawistik und Südosteuropa-Studien mit Schwerpunkt Balkan gemacht.

 

Übersetzung aus dem Englischen: Lotta Suominen

Die Ausstellung ist noch bis 28.5.2025 jeweils dienstags und donnerstags von 11 bis 19 Uhr und nach Vereinbarung am Finnland-Institut für Besucher*innen geöffnet. Auch zur Finissage am Mittwoch 28.5. von 18 bis 21 Uhr laden wir herzlich ein!

 

Ida Piri ist zurzeit als Volontärin am Finnland-Institut tätig. Sie hat diesen Beitrag redaktionell betreut.

Ida Piri on parhaillaan harjoittelijana Suomen Saksan-instituutissa. Hän on editoinut tämän jutun.

Ida Piri är för närvarande praktikant vid Finlandsinstitutet i Tyskland. Hon har redigerat denna text. 

Ida Piri, who has edited this article, is currently doing an internship at the Finnland-Institut.

Wir verwenden Cookies auf unserer Website, um Ihnen die relevanteste Erfahrung zu bieten
Weitere Informationen über die Verwendung Ihrer Daten finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.