„Hier in Oulu spielt Helsinki gar keine so große Rolle mehr“
Der Fennistik-Student Christoph Scheike hat das Pandemiejahr 2020-21 als Gaststudent an der Universität Oulu verbracht. Wir wollten wissen, wie es ihm in diesen eigentümlichen Zeiten hoch im Norden ergangen ist und wie er seinen Aufenthalt in Oulu empfunden hat. Matias Mynttinen interviewte Chris im Frühjahr 2021.
Seit 2018 studierst du Fennistik an der Universität zu Köln und im Herbst 2019 hast du im Rahmen deines Studiums auch ein Praktikum am Finnland-Institut in Deutschland absolviert. Woher stammt dein Interesse an Finnland und der finnischen Sprache?
Womit es angefangen hat, kann ich gar nicht so genau sagen. Nach meinem Abitur habe ich ein FSJ in Finnland gemacht, da habe ich mich dort einfach sehr wohl gefühlt und schon recht gute Sprachkenntnisse aufgebaut. Das Fach Fennistik zu studieren war dann ein natürlicher Übergang. Ein großes Interesse und gewisses Talent für Sprachen hat sich bei mir während meiner Schulzeit recht schnell herauskristallisiert und Finnisch war dann eine Chance, mal über den Tellerrand der Sprachen zu schauen, die in Deutschland sonst gewöhnlich unterrichtet werden, das fand ich faszinierend. Wo damals die Entscheidung herkam, ausgerechnet nach Finnland für mein FSJ zu gehen, ist eine gute Frage. Ich wollte irgendwohin, wo ich vorher noch nicht gewesen war, gern mit viel Natur, dazu noch einer für mich interessanten Sprache – und dann wurde es Finnland.
Zurzeit machst du ein Auslandsjahr an der Universität Oulu in Nordwestfinnland. Was für ein Erlebnis ist das Auslandsstudium in den Zeiten der Pandemie?
Es ist eine komische Balance zwischen dem besten und dem schlechtesten Zeitpunkt für ein Auslandsjahr. Einerseits ist es natürlich schade, dass ich nicht die volle Bandbreite des Studiums hier erleben kann, da die Kurse online stattfinden und viele Events ausfallen. Andererseits war die Pandemielage hier oben zu keinem Zeitpunkt so zugespitzt wie in Deutschland. Im Vergleich zu deutschen Freund_innen, mit denen ich auch oft in Kontakt war, konnte ich ein uneingeschränkteres Leben genießen. Letztlich ist es mir auch gelungen, sowohl in Finn_innen als auch anderen Austauschstudierenden Freund_innen zu finden, mit denen ich viel Schönes erleben durfte. Insofern hatte ich nicht das Gefühl, allzu viel verpasst zu haben, da die Uni z.B. auch trotzdem geöffnet war und wir dort häufiger Mittag gegessen und gelernt haben.
In Finnland ist die aktuelle Pandemiesituation ganz anders als in Deutschland, aber Studienveranstaltungen werden auch in Finnland online durchgeführt. Inwiefern unterscheiden sich das Studium und der Alltag an einer Universität zwischen Deutschland und Finnland – in dieser Zeit und auch unter normalen Umständen?
Wie gerade schon erwähnt, war ich trotz online stattfindender Lehrveranstaltungen viel auf dem Unigelände, das war in meinem Online-Semester in Deutschland vor dem Austausch nicht der Fall. Den Alltag an einer finnischen Universität zu normalen Zeiten habe ich leider noch nicht kennengelernt, ich kann aber vielleicht etwas zu allgemeineren Unterschieden im Studium sagen. Der Semesterrhythmus in Finnland durch die Einteilung in Perioden mit Klausurwochen war anders, ich empfand ihn als angenehm. Die Kurse waren oft kürzer, aber dafür etwas intensiver als in Deutschland.
Oulu ist eine relativ große Universitätsstadt und ein stark wachsendes Zentrum, bekannt für Technologie und Wirtschaft. Du hast ja bereits einen Winter in Oulu hinter dir: Wie findest du Oulu und das tägliche Leben dort? Unterscheidet sich die Stimmung in Oulu von der in anderen finnischen Orten und Regionen?
Ich finde das Leben in Oulu sehr angenehm. Die Stadt ist groß genug, dass sie lebendig ist, man trifft viele Studierende und es gibt Möglichkeiten für Aktivitäten. Andererseits ist sie so klein, dass in der Regel alles gut erreichbar ist und man kommt auch schnell aus der Stadt raus, wenn man möchte. Ich habe die Stimmung und die Menschen als sehr freundlich erlebt, mir ist es zumindest leicht gefallen, Kontakte zu knüpfen. Ich habe ja auch schon länger in Helsinki gelebt und wenn ich die beiden Regionen vergleiche, ist Helsinki vielleicht etwas anonymer und hektischer als Oulu, auch wenn ich die Stadt selbst nie allzu stark als das typische Groß- und Hauptstadt-Stereotyp erlebt habe. Mir ist allerdings aufgefallen, dass die Städte unterschiedliche Ausrichtungen haben. Bis vor meinem Austausch hatte ich fast nur südfinnische Freund_innen; es drehte sich viel um Helsinki und Helsinki selbst war sehr international mit vielen Verbindungen zum Ausland. Hier in Oulu spielt Helsinki gar keine so große Rolle mehr, es dreht sich viel um den Norden, bzw. „Nördlichkeit“ und ich habe auch selbst fast nur Ausflüge weiter in den Norden von hier aus gemacht. Für mich selbst ist Oulu auch zu einem zweiten Zentrum auf meiner persönlichen Finnlandkarte geworden.
In Finnland ist Oulu auch als Fahrradstadt bekannt, in der ein Netz von Radwegen die Stadtteile und die Naherholungsgebiete in dieser ebenen, zum Fahrradfahren geeigneten Gegend miteinander verbindet. Wie gefällt dir dieses städtische Zentrum Nordostbottniens direkt an der Ostsee und seine Umgebung unter touristischen Gesichtspunkten?
Dass sich die Stadt zum Fahrradfahren eignet, kann ich auf jeden Fall bestätigen. Aus touristischer Perspektive weiß ich nicht, ob die Stadt selbst ein so großer Magnet ist, aber ihre touristische Attraktivität definiert sich meiner Meinung nach gerade dadurch, dass sie eben das Tor zum Norden ist. Die Stadt bewirbt sich ja auch selbst als „Capital of Northern Scandinavia“. Man kommt schnell z.B. in schöne Naturgegenden und wenn man zurück in die Stadt kommt, kann man es sich in einer von Oulus Floßsaunas gutgehen lassen, durch Pikisaari mit seinen Holzhäusern schlendern, essen gehen… Es mangelt auch in der Stadt selbst nicht an Möglichkeiten. Sie ist quasi eine Schnittstelle zwischen Stadtleben und der Natur und Unberührtheit, die man sonst häufig mit dem Norden assoziiert. Kulturell gesehen hat Oulu auch einiges zu bieten, viele bekannte finnische Persönlichkeiten haben zumindest Zwischenstationen ihres Lebens hier absolviert.
Du kennst Sprache und Kultur Finnlands schon sehr gut, aber hat dich etwas Bestimmtes noch überrascht, als du nach Finnland gezogen bist? War es leicht, in Finnland „anzukommen”?
Da ich ja auch nicht zum ersten Mal nach Finnland gezogen bin, war es für mich schon relativ leicht, hier anzukommen, ich hatte aber auch bei meinen befreundeten Austauschstudierenden das Gefühl, dass sie sich hier schnell wohlgefühlt haben. Je mehr Zeit ich in Finnland verbringe, desto mehr lerne ich über Kultur und Sprache dazu und natürlich habe ich dies auch in meiner Zeit in Oulu getan. Allerdings geht es dabei mehr um kleinere Dinge, die mir hier und da auffallen und die ich als fehlende Puzzleteile in mein Finnlandbild ergänze, das aber insgesamt in seiner Zusammensetzung schon weit vorangeschritten und gut erkennbar ist, um der Metapher treu zu bleiben. Um ein Beispiel zu nennen, fällt mir häufiger eine gewisse Selbstverständlichkeit in Bezug auf Natur und Draußensein auf. Wenn die Temperaturen im Winter bei minus 20 Grad und kälter lagen, hat man trotzdem viele Menschen draußen gesehen und die Kinder haben in ihren Overalls gespielt.
Würdest du anderen Studierenden einen Studienaufenthalt in Oulu empfehlen und warum?
Das würde ich definitiv! Oulu ist eine Stadt mit sehr aktivem Studierendenleben – das konnte ich sogar zu Zeiten der Pandemie feststellen – und viel Natur drumherum und auch schönen Orten innerhalb der Stadt. Ich glaube, es ist für deutsche Studierende auch klimatisch eine Erfahrung mit Kälte und Dunkelheit, aber auch schönen Schneelandschaften im Winter und der Helligkeit vom späten Frühling und Sommer. Ich habe meine Zeit hier auf jeden Fall sehr genossen.
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Übrigens: Im Sommer 2021 wurde Oulu zur Kulturhauptstadt Europas 2026 gewählt!