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Foto/kuva/photo: Hannah Zeppen

Kulturschock auf Finnisch

Kann Finnland eine*n überhaupt „schocken“? Fünf Interviewpartner*innen aus so Finnland-fernen Ländern wie Aserbaidschan, Frankreich, Italien, Spanien und der Türkei sollen helfen, eine Antwort auf diese Frage zu finden – und Einblick darin zu geben, wie Leben in Finnland für Auswanderer eigentlich aussieht. Hannah Zeppen hat diese Interviews entwickelt und durchgeführt; sie sollen dazu dienen, eine internationale Perspektive auf die finnische Kultur zu öffnen.

Finnland gehört nicht unbedingt zu den Ländern, die in Europa als klassisches Einwanderungsland gelten. Allerdings scheint Finnland besonders Menschen zu überzeugen, die sich bereits mit Land und Leuten vertraut gemacht haben. Nach einem Jahr Freiwilligendienst, den man fast als „Probezeit“ für Finnland ansehen kann, sind viele meiner aus den verschiedensten Nationen stammenden Freunde dortgeblieben und einige von ihnen bauen sich nun ein dauerhaftes Leben in Finnland auf. Auch ich habe mit dem Gedanken gespielt und habe mich deswegen gefragt, wie Finnland uns eigentlich so in seinen Bann ziehen konnte. Fünf von meinen Freunden habe ich zu einem Interview eingeladen, um die Frage zu beantworten: Wie fühlt es sich an, in Finnland ein neues Leben zu beginnen? Und was führt einen zu dieser Entscheidung?

Der Blick auf Finnland ist in diesem Interview besonders durch Menschen geprägt, deren Heimatland weit entfernt vom Norden Europas liegt. Faszinierend daran ist vor allem die Perspektive von denjenigen unter ihnen, die vor ihrem ersten Umzug dorthin noch nie mit Finnland in Berührung gekommen waren. Wie hat sich ihr Blick auf Finnland mit der Zeit verändert?

 

Was hat dich nach Finnland geführt? Und was hat dich dazu gebracht zu bleiben? Unterscheiden sich deine Gründe bei diesen Fragen?

Nach Finnland auszuwandern, war oft das Resultat einer Mischung aus Zufall, Neugier und einer kaum in Worte zu fassenden Faszination für die „nordische“ Lebensweise, die größtenteils aus den Schlagzeilen über den hohen Lebensstandard, das Bildungssystem und einer Prise Ahnungslosigkeit, was genau das dann konkret zu bedeuten hat, gewachsen ist.

In Finnland angekommen, waren es vor allem die Atmosphäre und der hohe Lebensstandard, die sehr anziehend wirkten. Im Endeffekt unterschieden sich die Antworten auf beide Fragen gar nicht so sehr. Das Land schien generell das zu bieten, was man von ihm erwartete – mit dem kleinen Nebeneffekt, dass die meisten Erwartungen sogar übertroffen wurden.

„Am Anfang habe ich nicht an Finnland gedacht. Ich war auf der Suche nach etwas Neuem, einer neuen Erfahrung in meinem Leben. Ich habe nicht einmal daran gedacht, in Finnland zu bleiben, aber im letzten Moment, buchstäblich im letzten Monat, habe ich mich entschieden, hier zu bleiben. Wahrscheinlich wurde mir am Ende klar, dass ich mich in dieses Land verliebt habe.” Nariman, Aserbaidschan

 

Was liebst du am Alltag in Finnland und was gefällt dir nicht?

Ein Vorteil, der oft hervorgehoben wurde, war die Sicherheit und Ruhe in Finnland. Die Menschen werden im Allgemeinen nicht als gehetzt oder hektisch wahrgenommen, sondern eher als gesammelt und sehr respektvoll. Auch Ehrlichkeit und Freundlichkeit wurden häufig genannt, wenn es um den persönlichen Umgang miteinander ging, ebenso wie ein allgemeines Gefühl der Friedlichkeit in der Gesellschaft und im normalen Leben.

Die finnische Kultur fördert ein ruhiges, zielgerichtetes Verhalten der Menschen. Die Finnen sind weder unnötig überschwänglich freundlich noch unfreundlich. Das gesamte soziale Gefüge ist weniger aufgeblasen, und der Umgang mit den Menschen erscheint klarer und ehrlicher. Außerdem sind viele Aspekte des Lebens in Finnland sehr modern und fortschrittlich, mit wenigen, aber bedeutungsvollen Traditionen. Gleichwertigkeit hat einen hohen Stellenwert – nicht nur in der Realität, sondern auch in den Vorstellungen der Menschen. Trotz höherer Lebenshaltungskosten sind die sozialen Unterschiede weniger spürbar, und die Art und Weise, wie die Menschen miteinander umgehen, hängt nicht vom sozialen Status ab.

Das Verhältnis der Finn*innen zur Natur war jedoch Gegenstand einer heftigen Debatte. Während die einen betonten, wie schön sie die Naturverbundenheit im Land finden, kritisierten andere, dass dem echten Umweltschutz viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt werde. Ein weiterer Kritikpunkt war die fehlende Motivation, nach der Arbeit noch viel zu unternehmen, da die Finnen gern zu Hause bleiben und nach der Arbeit auch direkt dorthin zurückkehren.

„Ich fand es toll, dass die Finnen genug Zeit und Geld haben, um ihr Leben ohne großes wirtschaftliches Risiko ihren Träumen zu widmen. Außerdem finde ich es toll, dass die Menschen ehrlich sind und viele wirklich gute Werte haben.” Marta, Spanien

 „Alles scheint ohne Eile zu gehen, hier gibt es keine Hektik, keine Nervosität.” Federica, Italien

 

War deine Herkunft jemals in Finnland ein Problem für dich?

Es ist zuerst positiv hervorzuheben, dass keine*r der Interviewten nach ihren Erfahrungen aufgrund der Herkunft direkte Diskriminierung erfahren hat. Trotzdem stellt die Sprache ein nicht zu unterschätzendes Hindernis dar, was auch dazu führen kann, dass man als Zugezogene*r von manchen Möglichkeiten und Aspekten des Lebens ausgeschlossen ist.

„Die Sprachebarriere hat mich viel mehr eingeschränkt als meine Herkunft. Auch wenn hier viele Menschen fließend Englisch sprechen, ist Finnisch doch extrem wichtig, um sich ein Leben aufzubauen und sich zu integrieren.“ – Marta, Spanien

 

Was ist die beste Metapher, die dir in den Sinn kommt, wenn du an Finnland denkst?

„Wenn Europa eine WG wäre, wäre Finnland der etwas merkwürdige, aber immer liebenswerte Mitbewohner.“ – Marta, Spanien

„Finnen haben kalte Hände, warme Herzen und heiße Saunen.“ – Nariman, Aserbaidschan

„Finnland ist wie eine Kokosnuss, die von außen sehr hart, aber im Kern weich ist.“ – Serhan, Türkei

„Schweigen ist Gold.“ – Federica, Italien

 

Was hat dich in sozialen Interaktionen verwirrt?

Es überrascht nicht, dass die finnische Zurückhaltung anfangs verwirrend sein kann, vor allem für Menschen aus Ländern, die viel südlicher liegen als Finnland. Im Gegensatz zu diesem Phänomen im Alltag können Finnen, die einem näherstehen, wie zum Beispiel Arbeitskollegen oder Freunde, sehr direkt sein. Vor allem unter Alkoholeinfluss neigen Finnen dazu, sich drastisch und ohne großes Zögern zu öffnen. Trotzdem gelten Finnen unter den Befragten als aufgeschlossene und gute Zuhörer, die wissen, wann sie schweigen sollten.

„Finnen sind ziemlich kalte Menschen; sie reden nicht viel mit Fremden, aber sie gehen trotzdem nackt mit ihnen in die Sauna. Das erstaunt mich immer wieder.“ Serhan, Türkei

Der Fakt, dass Finnen dir wirklich zuhören, hat mich am Anfang sehr gewundert. Ich denke, Finnen fokussieren wirklich sehr darauf zuzuhören, wenn jemand spricht und antworten erst, wenn derjenige fertig ist. Sie unterbrechen dich nicht oder wirken abgelenkt.“ – Federica, Italien

 

Welches Klischee ist absolut wahr und welchses absolut falsch?

Wie bereits in den anderen Antworten hervorgehoben wurde, ist das Klischee, dass Finnen ihren persönlichen Freiraum lieben, in der Regel wahr. Wahrscheinlich gibt es mehr Introvertierte als in anderen Nationen, was man jedoch nicht mit Schüchternheit verwechseln sollte.

„Das Klischee, dass die Finnen ihre Saunas lieben und sie überall haben, ist zu 100 Prozent wahr! Auch dass die Finnen Pizza mit Ananas, sowie natürlich Kaffee lieben, den sie ständig trinken. Trotzdem weiß ich immer noch nicht, wie Finnland fünfmal hintereinander das glücklichste Land der Welt werden konnte. Hast du jemals ihre Gesichter gesehen?“ Nariman, Aserbaidschan

Wenn es um Stereotype geht, die völlig falsch sind, besteht Einigkeit darüber, dass das Klischee, die Finnen seien „ständig deprimiert und wollen nicht sozial oder emotional sein“, überhaupt nicht stimmt, auch wenn sie auf den ersten Blick distanziert wirken können.

„Man muss ihnen nur eine heiße Sauna geben, um zu sehen, wie sie explodieren und sich dir gegenüber öffnen.“ Marta, Spanien

 

Was sind deine Hoffnungen und Träume für die Zukunft? Wie hängen sie für dich mit Finnland (oder dem Leben in Finnland) zusammen?

Alle Teilnehmer, ob sie nun weggezogen sind oder noch in Finnland leben, haben den Wunsch geäußert, langfristig dort zu bleiben. Einig war man sich auch darüber, dass verschiedene Bedingungen erfüllt sein müssen: endlich die Sprache richtig zu lernen, in einer größeren Stadt im Süden zu leben und mehr soziale Kontakte zu finden.

„Ich hoffe, dass ich meine Karriere und meine Zukunft hier in Finnland weiter aufbauen kann und auch die finnische Sprache vernünftig lerne. Eines Tages möchte ich, dass auch meine Kinder hier in Finnland studieren und aufwachsen, denn es ist ein sicherer Ort und das Bildungssystem ist wirklich gut.” – Federica, Italien

 

In welchem Moment hast du gemerkt, dass du bleiben willst?

Auch hier spiegeln die Antworten die anfänglichen Aussagen wider. Die meisten haben sich erst während ihrer Zeit in Finnland dazu entschlossen zu bleiben. Man kann festhalten: Es dauert lange, sich an Finnland zu gewöhnen, aber man verliebt sich umso heftiger, je mehr Zeit dieser Prozess in Anspruch nimmt.

„Mir wurde nach der Zeit in Finnland klar, dass ich bleiben wollte, während ich durch Europa gereist bin und verschiedene Länder vergleichen konnte. Ich habe mich ständig dabei ertappt, wie ich Finnland und seinen einzigartigen Lebensstil vermisst habe.” Federica, Italien

 

Würdest du Finnland anderen empfehlen? Mit welchen Argumenten?

Meine Interview-Partner haben oft selbstständig die besondere Situation hervorgehoben, in der sie sich befanden. Sie sind mit anderen Freiwilligen aus aller Welt ins Land gekommen, hatten soziale Unterstützung und haben sich dann langsam ein Leben aufgebaut. Jede Empfehlung der Teilnehmer wurde mit einem gewissen Vorbehalt ausgesprochen, da ein sehr extrovertierter Mensch in Finnland an seine Grenzen stoßen könnte. Wenn man sich allerdings für Finnland entscheidet, sind es die grundlegenden und subtilen Dinge, die Finnland so besonders machen. Sie sprechen vielleicht nicht jeden direkt an, sobald man sie allerdings bewusst wahrgenommen hat, möchte man nicht mehr darauf verzichten.

„Für mich ist Finnland kein Land, an das man sich in ein paar Monaten gewöhnen kann. Es gibt einige Umstände wie das Wetter, die finnische Lebensweise, das Essen und vieles mehr, die es schwierig machen können. Nicht viele bleiben hier für lange Zeit. Aber ich kann sagen, wenn man ein sicheres Land mit schöner und sauberer Natur sucht, lange, dunkle und kalte Winter und herrliche Sommer mit weißen Nächten mag, dann ist dieses Land definitiv etwas für einen.“ Nariman, Aserbaidschan

„Ja und Nein. Finnland ist nicht für jeden etwas, es ist kalt und dunkel, was vor allem eine große Herausforderung bedeutet. Allerdings kann Finnland einem wirklich viel geben, aber man braucht Zeit und Geduld (die Sprache zum Beispiel ist vielleicht mühsam zu lernen aber wenn man sie einmal gelernt hat, werden sich einem viele Türen öffnen).” Federica, Italien

„Ich würde auf jeden Fall empfehlen, Finnland ,auszuprobieren‘. Aber dieses Land kann so extrem sein, dass ich nicht versuchen würde, jemanden zu überzeugen, hier zu bleiben. Wenn man sich nicht sicher ist, sollte man es nicht erzwingen.” Adrian, Frankreich

 

Was würde dich dazu bringen, sofort zu gehen? Hast du schon einige Gründe gesammelt, um zu gehen?

Die Dunkelheit, die mit der geografischen Lage Finnlands verbunden ist, war für viele Teilnehmer eine große Herausforderung. Darüber hinaus haben viele auch hier das Problem der Sprache wieder angesprochen. Finnisch ist eine der schwierigsten Sprachen der Welt. Und obwohl in Finnland viele Menschen fließend Englisch sprechen, ist es wichtig, die Landessprache zu beherrschen, um die Kultur vollständig zu verstehen und an ihr teilzuhaben.

„Allein die Dunkelheit ist ein Problem, aber nicht so schlimm, wenn man einen aktiven Lebensstil pflegt. Außerdem kann es aufgrund der Sprachschwierigkeiten sehr schwierig sein, einen anständigen Job mit guten Bedingungen zu finden.“ Marta, Spanien

 „Ich würde das Land verlassen, wenn ich eine lange Zeit arbeitslos wäre, oder wenn ich die Winter nicht mehr ertragen könnte.“ Adrian, Frankreich

 

Zum Schluss möchte ich eine letzte Metapher anführen: Finnland ist wie seine Lieblingssüßigkeit, salmiakki. Wenn man den Geschmack schon immer mochte, ist die finnische Version eine tolle Bereicherung. So manch einer gewöhnt sich zudem mit der Zeit daran und lernt es lieben. Wenn man allerdings mit der Aussicht leben muss, es jeden Tag aus Höflichkeit seinem Mitbewohner gegenüber zu essen, der es extra für einen mitgebracht hat – dann sollte einem bewusst sein, auf was man sich einlässt. Wenn man sich dessen sicher ist, hält Finnland einiges Potenzial bereit – und man wird dem Mitbewohner bald direkt mitteilen können, dass Seltenheit den Wert vieler Dinge erhöht. Trotzdem wird wohl niemand um den ein oder anderen sanften Schock herumkommen.

 

Hannah Zeppen studiert an der Universität Eichstätt Politikwissenschaft in einem interkulturellen deutsch-französischen Bachelor-Studiengang und ist gerade aus der Bretagne für ein Praktikum ans Finnland-Institut gekommen.

Hannah Zeppen opiskelee valtiotieteitä Eichstättin yliopistossa kulttuurienvälisessä saksalais-ranskalaisessa kandidaattiohjelmassa ja on juuri saapunut Bretagnesta Suomen Saksan-instituuttiin työharjoitteluun.

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