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Foto: Olivia Gripenwaldt/Finnland-Institut

Mit Goethe in Berlin

Die Philosophie-Forscherin Pirkko Holmberg behandelt in ihrer Doktorarbeit an der Universität Jyväskylä Goethes Naturphilosophie und hält sich zurzeit als Stipendiatin der Emil-Öhmann-Stiftung am Finnland-Institut und als Gastwissenschaftlerin an der Humboldt-Universität zu Berlin auf. Varpu Heikinheimo hat sie für unseren Blog interviewt.

 

Du wohnst jetzt seit März hier in Berlin. Kanntest du die Stadt vorher schon? Und bist du gut in deiner Arbeit angekommen?

Ich bin vorher schon einige Male in Berlin gewesen. Weil ich die riesige Auswahl an Museen schon bei meinen früheren Reisen erlebt habe, brauche ich mich jetzt glücklicherweise nicht deswegen zu stressen. Ich wohne direkt in Mitte, was sich inmitten der Asphaltwüsten manchmal etwas trostlos anfühlt. Ich muss zugeben, dass Berlin nicht gerade zu meinen Lieblingsstädten gehört. Andererseits ist es ja toll, wie viele Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung man hier hat, auch im Bereich Kultur. Ich war schon das eine oder andere Mal in der Oper, und Tangotanzen! Arbeitsmäßig dauert es bei mir meistens etwas, bis ich in die Gänge komme, aber allmählich bin ich soweit. Ich habe mich um einen Gastwissenschaftler-Status bemüht und nach ein paar Wochen bürokratischen Aufwands endlich geschafft, einen Bibliotheksausweis für die Humboldt-Universität zu ergattern… Und die Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße ist für Wissenschaftler*innen das Paradies schlechthin, auch, wenn das Maskentragen die Denkarbeit etwas verlangsamt.

 

Mit Goethes Zeitalter und seiner Art zu Denken hast du dich schon in deiner Magisterarbeit im Fach Ästhetik beschäftigt. Was hat eigentlich ursprünglich dein Interesse an Goethe geweckt?

Nach dem Abitur habe ich einige Jahre lang bildende Kunst studiert, wo wir Goethes Farbenlehre in der Praxis untersucht haben: Wir experimentierten mit Prismen, Komplementärfarben und so weiter. Goethe wurde in diesen Kursen allerdings etwas unkritisch betrachtet. Als ich dann an der Universität war, wollte ich wissenschaftlicher an die Grundlage von Goethes Farbenlehre und Naturphilosophie herangehen. Mein Motiv war aber nicht, Fehler in Goethes Naturstudien zu benennen, sondern ihre philosophisch nachhaltigen Kernfragen herauszuarbeiten. Spontan betrachtet erscheint die Farbenlehre selbstverständlich sinnvoll, und trotzdem können die Physiker sie fast einstimmig als Humbug verurteilen. Für diesen Widerspruch versuche ich eine Auflösung zu finden, auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich das schaffen werde.

 

Du hast auch Goethes Farbenlehre ins Finnische übersetzt und daran als Stipendiatin der Goethe-Gesellschaft in Weimar gearbeitet. Was für eine Erfahrung war dieses Übersetzungsprojekt für dich?

Schon am Anfang wusste ich, dass es sehr mühsam wird, und in der Endphase habe ich mich schon gefragt, ob ich je frei davon werde. Andererseits hat es sich geradezu entspannt angefühlt, sich mehrere Jahre lang auf eine einzige Sache konzentrieren zu können und tief in die Arbeit einzutauchen. Als Akademikerin im Kulturbereich mit gemischten Tätigkeiten ist mein Arbeitsleben ansonsten ziemlich fragmentiert!

Das Übersetzen unterscheidet sich ja von der Forschung; es ist vielleicht eine etwas klarere Arbeit, weil der Originaltext die ganze Zeit als „Leitstern“ dient. Ich würde fast sagen, dass es stressfreier ist, aber professionelle Übersetzer*innen haben ja äußerst enge Zeitpläne. Andererseits kann man den eigenen Gedankengängen nicht so frei folgen wie in der Forschung.

 

Goethe ist als Universalgenie bekannt, unter anderem als Dichter und Maler. In deinem Forschungsplan schreibst du, dass Goethe in der Naturforschung künstlerisches Schaffen und seine eigenen Beobachtungen nutzte. Welche Vorteile oder Herausforderungen siehst du im künstlerischen Denken für die wissenschaftliche Forschung?

Es liegt natürlich der Gedanke nahe, dass jemand, der sich als Künstler versteht, im eigenen Interesse handelt, wenn er naturkundliche Forschungen betreibt. Er möchte glauben, dass sein eigenes, tiefes künstlerisches Denken und seine Sichtweise etwas zur Interpretation der Natur beitragen können. Aber ist das nur Wunschdenken?

Ich persönlich glaube, dass die Beschäftigung mit den ästhetischen Erscheinungsformen der Natur wesentliche Erkenntnisse über die Natur geben kann. Ein Beispiel dafür ist die gesamte Disziplin der Morphologie oder Formenlehre, an deren Entstehung Goethe maßgeblichen Anteil hatte. Die [biologische, d.Red.] Morphologie spielt zum Beispiel in der Medizin eine Rolle. Vor einiger Zeit stieß ich auf eine Nachricht, nach der die Form der Stränge, die den Herzmuskel umgeben, wie sie in Leonardo da Vincis anatomischen Studien beschrieben wurde, einen großen Einfluss auf die Gesundheit des Herzens hat. [Link zum finnischsprachigen Artikel: https://yle.fi/uutiset/3-11662049.]

Der ästhetische Wert darf jedoch nicht auf seinen bloßen Nutzen reduziert werden, sondern muss seinen Wert an sich behalten. Wenn beispielsweise Naturräume gewählt werden, die geschützt werden sollen, könnte ihr ästhetischer Wert für den Menschen stärker betont werden. Wenn man sich zum Beispiel nur auf die Lebensräume gefährdeter Arten konzentriert, werden diese Schutzgebiete leicht zu einem auseinander gerissenen Flickenteppich, von dem weder Menschen noch andere Arten wirklich etwas haben.

 

Du hast selbst auch im Kulturbereich gearbeitet und Musikwissenschaft und Kunstgeschichte studiert. Glaubst du, dass dein Wissen über Kunst und Kultur Einfluss auf deine Forschung hat?

In meiner Masterarbeit ging es um die Gemeinsamkeiten zwischen Goethes Kunsttheorie und Naturphilosophie. Für Goethe war die Kunst der sinnliche Ausdruck der verborgenen Naturgesetze. Kunst und Natur waren auch bei vielen anderen Denkern der gleichen Epoche eng miteinander verbunden, wie z.B. bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, für den das Kunstwerk ein sinnlicher Ausdruck der intellektuellen Anschauung war, die das bewusste Selbst und die Natur zusammenbringt.

Für Ästhetiker*innen und Kunstphilosoph*innen ist es von Vorteil, dass das Verhältnis zur Kunst nicht einseitig und rein theoretisch ist, sondern dass sie sie als Erlebende und möglicherweise auch als Schaffende erfahren haben. Auf diese Weise spiegelt ihre Philosophie automatisch den jeweiligen individuellen ästhetischen Geschmack wider, ohne diesen „nur“ subjektiv zu machen.

 

Der Klimawandel und die Wertschätzung der Natur sind heutzutage wichtige Themen. Glaubst du, dass Goethes Lehren zur Naturforschung genutzt werden können, um Lösungen für die Klimakrise zu finden?

Geisteswissenschaftliche und anthropologische Ansätze zur Umwelt- und Klimakrise sind erst in jüngster Zeit mit in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion gerückt.  Ziemlich spät eigentlich, denn es ist klar, dass eine einfache naturwissenschaftliche Beschreibung der Ursachen von Umweltproblemen und der Klimakrise noch keine Lösung sein kann: Die Lösungen liegen im Bereich des menschlichen Verhaltens und der Kultur.

In Goethes Forschungsethos wird die Natur nicht nach einem vorher erbrachten Nutzen bewertet, sondern darf sich als sinnvolles Ganzes der Beobachtung öffnen. Dies inspiriert die Suche nach Alternativen zu einer naturwissenschaftlichen Forschung, die die Natur instrumental oder als bloße Ansammlung messbarer Größen betrachtet. So hat beispielsweise die australische Philosophin Dalia Nassar argumentiert, dass nur eine sorgfältige empirische Betrachtung nach dem Vorbild Goethes in Verbindung mit einer gründlichen ontologischen Behandlung der Natur eine Umweltethik ermöglicht. Heute haben wir uns aber so weit in eine andere Richtung bewegt, dass z.B. das aus dem Dasgupta-Bericht [Studie des Wirtschaftswissenschaftlers Partha Dasgupta zur Ökonomie der Artenvielfalt, engl. The Economics of Biodiversity: The Dasgupta Review; d.Red.] bekannte Verfahren, die lebende Natur mit wirtschaftlichen Ansätzen zu bewerten, wohl verständlich und vielleicht notwendig, aber sehr traurig ist.

 

Goethe gehört zu den sogenannten Weimarer Klassikern. Wie siehst du selbst den Begriff des Klassikers, und warum sollte man sich auch heute mit der Gedankenwelt der Klassik vertraut machen, und vielleicht nicht nur mit der von Goethe? Möchtest du weitere Namen nennen, gern auch welche von Frauen?

Als Klassiker gelten Schriftsteller und Denker, die unsere heutige Kultur und Denkweise beeinflusst haben. Es ist sinnvoll, sich über die Klassik zu informieren, um sich dieses Einflusses überhaupt bewusst zu sein und ihn besser zu verstehen. Die Klassiker werden oft als etwas Verstaubtes, als Schnee von gestern, wahrgenommen. Aber manchmal kann man in ihnen auch heute Ideen finden, die bisher unberücksichtigt geblieben sind und die es wert sind, stärker herausgestellt zu werden. Beispielsweise Friedrich Schillers Idee von der Rolle der ästhetischen Erziehung des Menschen beim Schaffen einer ausgewogeneren Gesellschaft verdient meines Erachtens mehr Aufmerksamkeit.

Für diejenigen, die sich für prägende Frauen aus der Klassik interessieren, lohnt es sich zum Beispiel, einen Blick auf den alternativen Literaturkanon zu werfen, den die finnische Autorin, Dramatikerin und Regisseurin Saara Turunen in ihrem Buch Sivuhenkilö [dt. Nebenfigur; das Buch wurde leider noch nicht ins Deutsche übersetzt, d.Red.] auflistet. In letzter Zeit sind auch interessante Abhandlungen zum Denken bestimmter Philosophinnen veröffentlicht worden. Ich möchte auch eine interessante frühe Phänomenologin erwähnen, die etwas in Vergessenheit geraten ist: Hedwig Conrad-Martius, die sich mit der Ontologie der Farbe beschäftigt hat.

 

Wie weit verbreitet ist die Goethe-Forschung heute in Finnland? Gibt es dort Netzwerke für Goethe-Studien? Bist du der Meinung, dass junge finnische Forscher*innen sich mit Goethe befassen sollten, und wenn ja, warum und wie würdest du sie dazu ermutigen?

Natürlich kennen Literaturwissenschaftler*innen, Romantikforscher*innen und jene, die sich mit klassischer deutscher Philosophie beschäftigen, Goethe aufgrund ihres Allgemeinwissens und aus dem historischen Hintergrund ihres Forschungsthemas heraus, möglicherweise sogar sehr gründlich. Die eigentliche Goethe-Forschung ist in Finnland jedoch recht begrenzt, und meistens handelt es sich dabei naheliegenderweise um Literaturforschung. Liisa Steinby, geborene Saariluoma, emeritierte Professorin für Literaturwissenschaft der Universität Turku, hat unter anderem Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre im Kontext des Entwicklungsromans und der Entwicklung eines modernen Selbst- und Zeitbewusstseins untersucht.

Auch an anderen finnischen Universitäten gibt es einzelne Goethe-Wissenschaftler wie Annika Waenerberg, emeritierte Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Jyväskylä, und Leena Eilittä, Literaturwissenschaftlerin und Privatdozentin in Helsinki. Von der Universität Turku möchte ich noch die Forschungsgruppe der Romantik RERG [Romantic Era Research Group, https://sites.utu.fi/rerg/] hervorheben. In Turku ist die Forschung zur Romantik sehr stark, vor allem im Fach Kulturgeschichte.

Die theoretische Goethe-Forschung ist ein ziemlich sumpfiges Gebiet, in dem man keine schnellen Erfolge erwarten darf. Goethe war kein systematischer Denker oder Schriftsteller, andererseits hatte er viele köstliche Einfälle für fast jede Situation. Viele Menschen versuchen, ihren Worten Gewicht zu verleihen, indem sie Goethe zitieren, oder sie wenden ihn auf ihre eigenen Bedürfnisse an – aber nur wenige gehen auf seine eigentlichen Gedanken gründlich ein. Wenn Sie sich für Goethe interessieren, kann ich Sie nur ermutigen, sich mit ihm zu beschäftigen. An Quellenmaterial mangelt es ganz sicher nicht, sodass es sich lohnt, einen klaren Gesichtspunkt zu wählen und sein Thema gut einzugrenzen.

 

Gibt es genügend Finanzierungsmöglichkeiten für finnische Wissenschaftler*innen?

Die Finanzierungslage ist schon seit langem ziemlich schlecht. Obwohl die stärksten Kürzungen von Forschungsgeldern dieses Jahr widerrufen worden sind, haben u.a. die Abgrenzungen der Akademie von Finnland in den einschlägigen Finanzierungsformaten insbesondere die Lage junger Wissenschaftler*innen verschlechtert. Für Wissenschaftler*innen ist es sehr schwierig, eine durchgehende wissenschaftliche Karriere aufzubauen, zumal auch unbefristete Stellen nach dem finnischen Universitätsgesetz 2009 nicht unbedingt abgesichert sind. Die Motivation muss schon außerordentlich sein, wenn man im Spiel bleiben und die geforderte akademische Qualifikation aufrechterhalten möchte. Ich selbst setze nicht nur auf ein Pferd – also auf die akademische Forschung – sondern ich bin bereit, arbeitsmäßig Verschiedenes zu machen – auch, weil man als Forscher*in praktisch dazu gezwungen wird.

 

Wenn du Goethe in einem Berliner Café treffen würdest, worüber würdest du dich gern mit ihm unterhalten?

Mit historischen Persönlichkeiten ins Gespräch zu kommen, wäre bestimmt nicht leicht, weil sie eben in einer ganz anderen Zeit und Kultur aufgewachsen sind. Ich denke, dies würde auch auf Goethe zutreffen: Wahrscheinlich würde ich einem typischen, in seine eigene Stimme verliebten Onkel begegnen, und aufgrund meiner persönlichen Introvertiertheit würde ich es nicht unbedingt schaffen, ihm überhaupt Fragen zu stellen. Wenn wir diesen Faktor außer Acht lassen, würde es mich locken, ihn über die Mischung von farbigem Licht zu befragen. Zu seiner Lebenszeit war Goethe der unerschütterlichen Meinung, dass, wenn man etwas Dunkles, nämlich die Farben, mischt, nichts Helles entstehen kann. Ob er jetzt endlich bereit wäre, dies in Bezug auf farbiges Licht anders zu betrachten? Vielleicht ist es doch ganz gut, dass ich nicht die Möglichkeit habe, den armen Herrn Geheimrat zu nerven!

 

Übersetzung aus dem Finnischen:
Roosa-Maria Muilu, Varpu Heikinheimo und Olivia Gripenwaldt

 

Varpu Heikinheimo ist Berufsmusikerin. Im Rahmen ihrer Ausbildung am Helsinki Business College hat sie im Frühjahr 2022 ein Praktikum am Finnland-Institut absolviert.

Varpu Heikinheimo on ammattimuusikko. Hän suoritti keväällä 2022 työharjoittelun Suomen Saksan-instituutissa osana opintojaan Helsinki Business Collegessa.

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